Noah Lyles: Er soll der neue Bolt werden (2024)

Der US-Amerikaner Noah Lyles gewinnt eines der knappsten 100-Meter-Rennen der Geschichte. Ein Ereignis, das der Disziplin nur guttun kann

Von Christian Spiller

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Dreißig Sekunden lang wusste niemand, wer dieses Rennen gewonnen hatte. Dreißig Sekunden lang, etwa dreimal so lang, wie das Rennen selbst gedauert hatte, war nicht klar, wer denn nun der schnellste Mann der Welt ist. Die Sprinter, gerade ins Ziel gelaufen, schauten auf die große Anzeigetafel in der Kurve des Stadions, wo sie für gewöhnlich das Resultat ihres Rennens ablesen können. Doch dieses Mal stand statt einer Zeit nur "PHOTO, PHOTO, PHOTO, PHOTO, PHOTO, PHOTO, PHOTO" hinter den Namen der sieben ersten Plätze. Das untrügliche Zeichen dafür, dass das Fotofinish entscheiden würde.

Unschlüssig standen sie also herum. Gewöhnt daran, normalerweise sofort zu jubeln oder sich mit einer Niederlage abzufinden, hatten sie selbst allenfalls eine Ahnung und noch mehr Ungeduld. Der Jamaikaner Kishane Thompson schrie "Come on" in Richtung der Anzeigetafel, hielt es nicht mehr aus. Der US-Amerikaner Noah Lyles lief zu ihm, legte ihm die Hände auf die Schultern, um vorsichtig zu gratulieren. "Ich sagte ihm: Du hast es geschafft!", erzähle Lyles hinterher. Hatte er aber nicht.

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Es dauerte eine halbe Ewigkeit, ehe die Technik ihr Urteil sprach: Der US-Amerikaner Noah Lyles war der neue Olympiasieger. Er riss sich sofort die Startnummer vom Leib und feierte sich, das Rennen und die fünf Tausendstelsekunden, die er vor Kishane Thompson aus Jamaika ins Ziel gelaufen war. Fünf Tausendstel. Halb so lang wie der Flügelschlag eines Kolibris.

Es ist nicht übertrieben, von einem historischen Rennen zu sprechen. Weil es nicht nur an der Spitze so knapp war, sondern auch weiter hinten. Zwischen Platz zwei und drei lagen zwei Hundertstel, zwischen drei und vier eine. Insgesamt trennten den Olympiasieger vom Letztplatzierten nur zwölf Hundertstelsekunden. So einheitliche Zieleinläufe sieht man selten. Es gab sogar fünf kleine Weltrekorde: Nie zuvor waren Sprinter, die in einem Lauf Vierter, Fünfter, Sechster, Siebter und Achter wurden, schneller unterwegs. Für die frühere Leichtathletiklegende Michael Johnson war es das größte Rennen aller Zeiten.

Der 100-Meter-Lauf brauchte dringend einen neuen Star

Es war in jedem Fall ein spektakuläres Rennen. Eines, das die 100-Meter-Läufer mal wieder gebraucht haben. Zuletzt drohte das Event, das stets einer der, vielleicht sogar der Höhepunkt jeder Olympischen Spiele überhaupt war, ein wenig an Glanz zu verlieren. Als Usain Bolt noch mitlief, galt das Rennen als "greatest show on earth". Doch seitdem der Jamaikaner nach der WM 2017 in Sprinterrente ging, fehlte es an Läufern, die die Fantasie des Publiku*ms auch nur annähernd beflügelten wie Bolt. Läufer, die auch neben der Bahn genug Coolness ausstrahlen, um sie von Netflix und Co. wegzulocken.

So sehr sorgte man sich anscheinend auch in der Branche um die 100 Meter, dass eben genau auf Netflix kürzlich eine Dokuserie namens The Sprint startete, in der unter anderem Noah Lyles porträtiert wird. Auch rund um diesen Sonntagabend im ausverkauften Stade de France wurde Lyles gleich von mehreren Kamerateams verfolgt, bei allem, was er tat. Beim Betreten des Pressekonferenzraums, beim Verlassen, beim Suchen des Stadionausgangs, beim Umdrehen, weil man ihn und damit auch alleKameraleute in die falsche Richtung schickte, und so weiter. Etwas überraschend fast, dass die Kamerateams während seines Rennens nicht nebenher gelaufen sind.

Lyles soll der neue Bolt werden, was natürlich unmöglich ist. Das weiß auch Lyles, aber legt sich ins Zeug. Für manche ein wenig zu viel, für die ist er ein Großmaul. Vor den Spielen von Tokio sprach Lyles von drei Goldmedaillen, brachte aber nur einmal Bronze nach Hause. Während die anderen Sprinter vor dem Finale von Paris nach ihrer Vorstellung mal kurz für die Kamera posierten, ins Publikum winkten und zu ihrem Startplatz trotteten, hüpfte Lyles wie aufgezogen herum und die halbe Bahn hinunter, sodass man fast fürchtete, der Mann könnte sich vorzeitig zu sehr verausgaben. Er machte allerlei Faxen, trug eine auffällige Kette, Perlen im Haar, verschiedenfarbige Fingernägel. Lyles galt als jemand, der das nächste große Sprintding sein will, seine Allüren aber nicht in Deckung mit sportlicher Leistung bringt. Bis zu diesem Tag.

Nach 80 Metern spielte Lyles seine große Stärke aus

Der 27-Jährige gewann den ersten Titel eines US-Amerikaners über die Distanz seit 20 Jahren. Dabei sah es zunächst erst gar nicht danach aus. Lyles war bis zur 40-Meter-Marke Letzter und lief erst dann nach vorne vor. Nach 80 Metern lag er immer noch lediglich auf Rang drei, aber spielte dann seine große Stärke aus: Er wird in der zweiten Hälfte des Rennens weniger schnell langsam als alle anderen.

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Das Geheimnis eines 100-Meter-Laufs nämlich besteht darin, zunächst in möglichst kurzer Zeit möglichst schnell zu werden, vor allem aber darin, nachdem die Maximalgeschwindigkeit erreicht ist, nicht zu sehr nachzulassen. Auf den letzten 20 Metern nahm Lyles dem späteren Zweiten und Dritten, Kishane Thompson und Fred Kerley, zwei Zehntelsekunden ab. Die hatte er auch gutzumachen. Für Lyles hätte das Rennen keinen Meter früher zu Ende gehen dürfen.

"Einer der Biomechaniker hat mir vor dem Rennen gesagt, dass es so knapp werden könnte", sagte Lyles und hält Daumen und Zeigefinger ganz eng beieinander. So knapp wurde es dann auch, vielleicht sogar noch ein wenig knapper. Die Zielfotokamera Scan'O'Vision Ultimate von Omega, einem Schweizer Uhrenhersteller, der als offizieller Zeitnehmer der Olympischen Spiele fungiert, kann übrigens 40.000 Bilder pro Sekunde ausgeben. Da gibt es wohl kaum was zu beanstanden. Von einer geteilten Goldmedaille wollten alle Beteiligten auch nichts wissen.

Gut jedenfalls, dass Lyles kurz vor knapp noch mal seinen Oberkörper nach vorne warf. "Etwas in mir sagte: 'Du musst dich nach vorne lehnen.' So ein Rennen war das. Es war verrückt", sagte Lyles. Würde aber, wie bei Abseitsentscheidungen im Fußball, die Fußspitze zählen, hätte wohl Thompson gewonnen. Oder doch Fred Kerley, der Bronze holte?

Lyles wurde dann noch gefragt, ob er nervös gewesen sei vor dem Rennen. "So würde ich das nicht sehen. Ich war sehr neugierig darauf, was passieren würde, so haben das mein Therapeut und ich formuliert", sagte Lyles. Auch anderswo hat der Therapeut ganze Arbeit geleistet. Auf die Frage, was seine Gegner nun von ihm bei den 200 Metern erwarten können, sagte Lyles: "Wenn ich aus der Kurve komme, werden sie Stress haben."

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